Mi quinto figlio

20 Grad frühmorgens sind was feines, besonders anfang September und ganz besonders wenn man sich gerade mit Trennungsschmerz in Gepäck vor den ersten deutschen spätsommerlichen Unwetterwellen gerettet hat. Auf einem Balkon in Pescara ziel- und planlos zu sitzen und einen guten Espresso zu genießen ist nunmal besser als das gleiche daheim in Deutschland zu tun.

Ich gehe zum Espresso-Vollautomaten (Doris, meine beste Freundin weiß guten Espresso zu schätzen, genau wie ich) und hole mir Nachschub.

Alles sooo weit weg. Kaum zu glauben, daß ich erst gestern Nachmittag angekommen bin. Das eine Zimmer in Ihrer Wohnung hatte Doris gerade an ein nettes Pärchen aus dem Schwarzwald vermietet, so saßen wir zu viert beim Nachmittagsespresso. Nette Runde, ließ mich all den Frust, Schmerz und Müdigkeit vergessen. Anschließend zum Einkaufen gefahren. Wieder zu viert. Der italienische Stadtverkehr hat selbst in einer Kleinstadt wie Pescara so einige Erlebnisse zu bieten hat und meine Gastgeberin pflegt eine forsche, bestimmte und schwungvolle Fahrweise. Dazu noch ist sie nicht gerade sparsam, "Segnungen" an herumtrödelnde Fahrzeugbediener und lebensmüde Fußgänger zu verteilen. Das "vafanculo" hat sich schon fest in mein Hörgedächtnis gebrannt.

An dem Rest der Einkaufsfahrt erinnere ich mich nur bruchstückhaft. Ich muß wohl wie ein Zombie ausgesehen haben, als ich im Hypermarkt den Einkaufswagen geschoben habe.Die Kombination aus Sonne, der Klimaanlage in Ihrem neuen Ford Focus und der doch Oberhand gewinnenden Müdigkeit ließ mich immer wieder einschlafen. Oder lag es an dem Karton Heineken, dessen Inhalt wir zu dritt später gehörig dezimiert haben? 750ml-Flaschen, da steckt nunmal mehr drin als inner gewöhnlichen deutschen 0,5l-Pulle.

Kopfschmerz habe ich zum Glück keins. Im Gegenteil. Mir geht's gut. Oder auf alle Fälle besser. Doris fragt mich, was wir denn heute tun. Auf Strand und Co. habe ich null bock. "Laß uns einfach durch die Gegend fahren". Vorschlag akzeptiert. Sie hat auch nichts dagegen, daß wir den Cab nehmen. Und noch weniger hat sie dagegen, daß wir Autobahnen meiden. Navi lasse ich in der Wohnung. Hier ist sie zuhause, kennt jede Ecke, jedes so kleine Örtchen, hier sind Ihre Freunde. Verfahren könnte man sich hier, verlieren nicht.

Das Cab hat kaum eine Nacht gestanden, trotzdem hat sich wie ein Grauschleier eine feine Staubschicht um den Lack gelegt. "Das ist kein Staub, das ist ganz feiner Sand", erklärt Doris, "Der lagert sich hier so gut wie überall ab". Und fügt hinzu, daher würde sie ihren Focus jede Woche waschen und reinigen lassen. Koste weniger als 10€. In der Tat, besagter Focus glänzt wie eine Badezimmerarmatur. Silbermetallic. "Titanium"-Innenausstattung (inklusive des ewig kaputten Handschufachdeckels, Focus-Besitzer kennen das Leid bestens). Und heute hat Focus keine Chance. Wir fahren Cabrio.

Es ist fast Mittag und ich darf alle Vorzüge des italienischen Stadtverkehrs genießen, während Doris vom Beifahrersitz aus immer wieder die "Fahrkünste" der anderen. Mein italienischer Wortschatz wächst ein wenig. Um Wörter, die, gelinde gesagt, nicht für eine gepflegte Unterhaltung geeignet sind. Verkehr erinnert mich an meine Heimatstadt. Mit dem Chaos komme ich bestens klar und bin beim fahren merkwürdigerweise viel entspannter als ich es je in Deutschland gewesen bin. Gefällt mir. Spur wechseln, ins Kreisverkehr rein, wieder raus, links abbiegen, alles geht mit weitaus engeren Abständen als in Deutschland und dennoch so lässig und natürlich. Sorgen mache ich mir keine, daß mir jemand ins Auto fährt. Selbst der (seltene) möchtegerne-Schumacher ist eher lustig als wirklich gefährlich. Mit einer grooooßen Portion Mitleid denke ich an die deutschen ach-so-cool-Fahrer mit ihren ebenso extrem wie geschmacklos gepimpten Golfs und 3er BMWs. Mädels, von der Lässigkeit, die hier herrscht, könntet ihr euch mehr als nur ne Scheibe abschneiden. Wenn nicht, dann seid ihr geistig tiefergelegt. Bei dem Gedanken lache ich. Das erste mal seit Tagen.

Endlich erreichen wir die Auffahrt zur Schnellstraße. Raus aus Pescara. Einige Kilometer geht es zügig voran, dann lotst mich Doris wieder durch die Vororte. Ländliche Vororte, kleine Landstraße, einige Tunnels, bis wir auf die alte Adriatica kommen. Offizieller Name "Strada Statale 16 Adriatica". Abseits der Autobahn. Eine zweispurige Landstraße, die sich der Küste entlang schlängelt. Immer wieder kleinere Orte, die so verstaubt und naturbelassen aussehen. Selbst verfallende Häuser und welche, die seit Jahren keine Außenrenovierung mehr erhalten haben, passen ins Bild wie die Faust aufs Auge. Herrlich ehrlich. Mit Ausnahme vom tiefsten Niederrhein und Niederbayern kommen mir deutsche Dörfer im Vergleich geradezu steril vor.

Wir fahren nach Süden, die Adria zur meiner Linken, die steil aufsteigenden Hügel zu meiner Rechten. Die Bahnstrecke schlängelt sich gleich nebenan und kreuzt immer wieder die Straße. Wenig Verkehr, flüssig zu fahren. "Einfach nur geil", sage ich. Doris lacht. "Früher, als die A14 nur bis Ancona reichte, war das die Hauptstraße nach Süden", erzählt sie, "da hast du oft von Stuttgart bis Ancona 5 Stunden gebraucht und von Ancona bis Pescara das doppelte und dreifache". Ich ziehe die Augenbrauen hoch. "Na, du siehst, wie die Italiener fahren, pack' auch mal ein Haufen deutsche Urlauber dazu, dann hast du den Salat".

Statt eine Antwort zu geben, ertönt das Grollen aus dem Auspuff, als ich einen Gang runterschalte und auf der leichten Steigung beschleunige. Währt nicht lange, vor mir kurvt die Adriatica vom Meer weg und in die nächste Ortschaft. Dafür erhasche ich den Blick auf einen Hügel, der richtung Meer steil abfällt und in den Himmel ragt wie die Bug eines Schlachtkreuzers. Auf dem kleinen Plateau oben sehen die Häuser so aus, als würden sie sich aneinanderkuscheln und zueinanderhalten, um Wind und Wetter gemeinsam zu trotzen. Am Kopf der ganzen Häuserreihe eine Kirche.

"Da oben wollen wir hin, eine Freundin besuchen", winkt Doris mit der Hand. Ich bin sprachlos. Nach ganz oben? "Ja, meine Freundin wohnt gleich im ersten Haus. Jetzt sind wir in Marina die San Vito, das da oben ist San Vito Chietino", erklärt sie mir. Wir sind dem Hang nähergekommen und ich kann es mir kaum vorstellen, daß irgendeine Straße da bergauf führt. Doch. Ein Paar Kreuzungen später schlängeln wir auf einer ebenso schmale wie steil nach oben aufsteigende Straße den Hang hinauf. Mühelos kassiere ich einen Alfa und lasse es dann fliegen. So, daß die alten Dunlops in den Kurven um Gnade winseln.

Schalten. Drehzahl halten. Unter 2500 darf's nicht sein. Es wird laut. Zweiter, dritter, vierter Gang...vom Gas gehen, Bremse kurz antippen, runter in den dritten, rein in die nächste Kurve. Kurz vorm Scheitelpunkt wieder Gas geben und Lenkeinschlag ein wenig aufmachen. Beim Beschleunigen drehe ich die Gänge bis jenseits der 4500 aus. Doris hält sich am Türgriff fest. "Fahr doch nicht so, ich bin eine alte Oma!" Ich lache. Alte Oma? Mitnichten! Als wir uns vor mehr als 10 Jahren kennengelernt haben, fuhr sie einen Mitsubishi Eclipse. Den hat sie genauso durch die Kurven gescheucht.

Für mein Geschmack viel zu schnell kommen wir in San Vito Chietino an und rollen langsam durch die engen Gassen. Das letzte Stück Straße bis zur Wohnung von Doris' Freundin ist Fußgängerzone. Geschützt durch eine Schikane aus auf dem Boden liegenden Betonkugeln. "Hier fahre ich immer durch bis nach ganz vorne", wirft sie ein. Also nix wie dahin, und gleich vor dem Haus anhalten. Tür steht offen. Ihre Freundin kommt raus und begrüßt uns beide so herzlich und offen, daß ich mich sofort willkommen fühle.

Die Frau ist anfang 80, sieht aber locker 20-30 Jahre jünger aus aus und strahlt dermaßen Energie und Lebensfreude aus, daß es geradezu ansteckend ist. Und wirkt dabei so natürlich. Auf dem bekannten und unbekannten Besuch freuen sich alle. Ihr mann, der Familienoberhaupt, ihre Tochter, selbst die kleine Enkeltochter, die um uns herumtobt. Wir gehen ins Haus. Sowas habe ich nie in meinem Leben gesehen. Die Eingangstür führt sofort in die Küche. Doris erklärt mir, daß alle Zimmer in den 3 Stockwerken obendrauf sind. Wow! Es trübt die Laune auch keinesfalls, daß ich wenig später den Audi doch umparken muß.

Auf dem Rückweg bleibe ich eine Weile auf der achteckigen Aussichtsplattform am Ende des Hügels. Die Aussicht ist einfach nur schön. Zurück ins Haus geht es weiterhin fröhlich und so familiär am Tisch zu. Keinerlei Berührungsängste. Italienisch spreche ich garnicht, dennoch erhasche ich ein Paar Worte. Doris' Freundin fragt was über mich...mein Beruf...wie alt. Erst später erfuhr ich, daß sie gefragt hätte, ob ich verheiratet sei. Mußte bei dem Gedanken schmunzeln. Und über die Antwort lächeln. "32, da hat er noch viel Zeit". Einen Satz von Doris verstehe ich aber komplett. Als sie zu mir zeigt und sagt "mi quinto figlio".

Mi quinto figlio. Mein füntes Kind. Vier eigene hat sie. Und für mich ist sie auch sowas wie meine zweite Mutter. Nicht nur weil sie fast so alt wie meine Mutter ist und ich ungefähr so alt wie ihr ältester Sohn. Seit wir uns kennen, haben wir immer zusammengehalten und sind prima miteinander ausgekommen. Und genauso werde ich auch empfangen, jedesmal wenn ich mit ihr unterwegs bin.

Mittlerweile ist auch das Essen fertig. Und es schmeckt. In dem Moment würde ich dieses einfache Essen für nichts auf der Welt tauschen. Nicht einmal für ein Candlelight-Dinner mit der Frau meiner Träume. Von Doris' Freundin werde ich ermahnt, kein Stück auf dem Teller zu lassen. Als wäre ich ihr eigenes Kind, schaut sie mich ein wenig beleidigt an, als ich einen Nachschlag ablehne. Auch wenn mein Bauch voll ist, gegen eine italienische Familie habe ich keine Chance. Trotzdem schmeckt der Nachschlag. Und das ist noch beiweitem nicht alles. Es gibt noch Nachtisch und dann den leckersten Espresso meines Lebens. Danach kommt die Überraschung des Tages.

Das Haus steht nicht nur als letztes in der Reihe, sondern hat auch eine Dachterasse. Wo ich dachte, die Aussicht vom Hügelkopf aus sei atemberaubend, erfährt alles jetzt eine Steigerung. Von der Dachterasse hat man nicht nur Aussicht auf die Adria, sondern auch richtung Land. Und das nicht zu knapp. Und der Glockenturm der Kirche auf der anderen Straßenseite ist fast auf Augenhöhe. Mir gehen die Worte aus.

Aus dem Mittag ist schon ein tiefer Nachmittag geworden. Wir verabschieden uns und fahren los. Den Cab lasse ich auf der Abfahrt zur Marina di San Vito ausrollen. Doris lotst mich richtung Landesinnere. Wir fahren nach Lanciano. Eine der ältesten Städte Italiens und Ort des ersten beschriebenen Eucharistuswunders. Vergnügt beschwert sich Doris wieder über meine Fahrweise. Ich fahre weiterhin so.

In Lanciano erwischen wir sogar einen Parkplatz ziemlich in der Stadtmitte. Besuchen das Konvent. Die Basilika. Schlendern lange durch die engen Gassen und lassen den Tag bei Espresso und Succo di Limone in einem Café ausklingen. Auf dem Weg zurück muß ich den Cab durch so enge Gassen steuern, daß man fast meinen müßte, Vaseline um die Seiten schmieren zu müssen, damit man überhaupt durchkommt. Geht alles glücklich ohne Kratzer aus.

Die sonne scheint mir in den Nacken, als es über die Landstraßen zurück nach Pescara geht. Je näher wir kommen, desto dichter und unruhiger wird das Verkehr. Macht mir nichts aus. Genausowenig wie die dicker werdende Sandstaubschicht auf dem Lack. Im Gegenteil. Die werde ich eine Weile so lassen. Als Erinnerung.

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