Ein Hauch von Winter

Gestern mittag schrieb ich noch über Entzugserscheinungen. Der Nachmittag sollte mich eines besseren belehren. Aber lest für euch selbst.

Draußen scheint die Sonne so schön und die Bäume strahlen noch herbstlich-gold. Beim ersten Kaffee heute morgen denke ich mir sogar, das wäre ein schönes Wetter zum Cruisen. Der geöffnete Fenster machte aber den Wunsch zunichte. Gerade mal vier grad. Schade.

Wenn die Temperatur nicht wäre, sieht alles so sehr nach Sommer aus (bis auf die goldenen Blätter an den Bäumen und dem Fallaub). Auch wenn es schön ist, aus dem Fenster schauen fühlt sich wie Fernsehen an. Nur zum gucken, nicht zum Anfassen.

Ich versuche, mich mit Kaffeetrinken und Musik abzulenken. Klappt nur bedingt. Die Sonne steigt höher am Himmel, das Wetter sieht noch herrlicher aus. Und ich habe Nachtdienst. Motivation, irgendwas an diesem Vormittag zu machen, tendiert stetig gegen Null. Ein wenig entnervt stelle ich fest, ich müßte eigentlich einkaufen. Trinke den Kaffee aus, rein in die Klamotten und raus aus der Wohnung.

Auf der Fahrt in die Stadt begnüge ich mich mit einem offenen Seitenfenster und muß feststellen, soooo kalt ist es wirklich nicht. An einer Kreuzung zieht ein offener schwarzer A4 Cabrio vorbei. Schade. Die Fahrt ist zu kurz, um noch anzuhalten. Einkäufe sind in der Tüte, schnell nach Hause. Cab stelle draußen ab.

Im Briefkasten wartet ein Lichtblick auf mich - eine CD, die ich mir neulich bestellt habe. Doch was gutes an diesem Tag. Wandert sofort in den Player und die Nachbarn dürfen in vollem Umfang von meinem Faible für Hard Rock erfahren.

Irgendwo zwischen dem Unmut, der sich angesichts des kommenden Nachtdienstes breitmacht, und den Wunsch, die Fahrt zum Krankenhaus in Angriff zu nehmen, verliert sich die Zeit. Einen Kaffee zuviel und einige Minuten zu spät springe ich unter die Dusche, verzichte wieder aufs Rasieren, schlüpfe wieder in meine Klamotten und mache mich auf dem Weg. Immer noch widerwillig.

Der Widerwille verschwindet ganz schnell, als ich zum Cab laufe. Es sieht nicht nur warm aus, es ist warm. CD in den Player und sofort den Song anwählen, den ich vorher dreimal hintereinander gehört habe. Vixen und "I Want You To Rock Me". Die Stimme von Janet Gardner ertönt mir in den Ohren. "I threw the top down, then pulled into town, I had no time for the blues". Richtig so! Es ist nicht Samstag und ich fahren nicht zu einer Party, Verdeck verschwindet trotzdem im Kasten.

Die ersten Kilometer fühlen sich, wie es angefangen hat. Als wäre man nicht unterwegs zur Arbeit, sondern zu einer Party. Novembersonne, goldene Baumkronen, aquamarinblauer Himmel. Seltsam, fällt mir ein, ist der Himmel je im Sommer so tiefblau gewesen? Ich weiß es nicht. Kann mich nicht erinnern. Raus aus dem Rheinufertunnel. Gas auf dem Flughafenzubringer. Stückweise erinnert nur der herumfliegende Fallaub, daß es nicht Sommer ist. Das tut er deutlich und bringt neue Gedanken in den Nachmittag.

Mit dem Fallaub kommt auch die Sehnsucht. Ein Stück Sehnsucht, ein Stück Erinnerung, ein ganz klein wenig Trauer. Mehr und mehr durchdringen diese Gefühle meine Jacke, fester, als es je ein Fahrtwind getan hat. Ich denke zurück an die vielen Kilometer unterwegs zur Arbeit und zurück im Sommer. Jetzt fühlt es sich anders. Was war denn so anders? Der Umweg über Essen-Kray, als "meine" Ausfahrt zur Arbeit einen Monat lang gesperrt war? Ein wenig. Es hatte schon was. Vorbei an der "alten Lohnhalle" und dem noch erhaltenen Förderturm irgendeiner Zeche. Tunnelartig von damals grünen Baumkronen umsäumte Straßen. Die Sehnsucht erstarrt zu einem Klumpen in meiner Kehle. Ich muß schlucken. Ja, es war ein Umweg, es führte nicht durch die besten Gegenden, aber es war schön. Sommerlich schön. Ob es auch daran lag, daß ich auch nicht allein war?

Gewiß. Hätte nicht sein sollen. Zum Glück ist der quälende, Denken, Freude und Verstand lähmende Trennungsschmerz und der genauso schmerzhafte wie irrationelle Wunsch nach den alten Zeiten längst nicht mehr da. Nur meine Sehnsucht wächst. Und nimmt eine etwas mehr traurige und melancholische Note. Aber war es nur das?

Ich schaue in die Rückspiegel. Die Sonne liegt mir in den Rücken und blendet. Die sich so kalt anfühlende Sehnsucht wird ein wenig wärmer. Mir schießt durch den Kopf, daß ich von der Sonne wegfahre. Ist es das?

Das Wetter ist jetzt frisch wie es frühmorgens im Sommer war. Nur hat die Frische hat eine seltsame, bedrohlisch-schneidende Note angenommen. Es ist nicht mehr die Frische frühmorgens, die man vor einem heißen Tag genießt. Jetzt verheißt die Frische Kälte. Verspricht klare Tage, wo die Sonne nicht wärmt, sondern es noch kühler wird, wo es an manchen Tagen fast wehtun wird, wenn man zu unvorsichtig, zu schnell und zu viel von der ebenso kristallklaren wie eiskalten Luft einatmet.

Plötzlich wird mir klar, wieso sich alles so anders anfühlt heute. Was es damit an sich hat. Es ist der Duft des Winters, der bald mit Kälte, Dunkelheit und Regen Einzug halten wird. Noch ist es nicht soweit. Es kitzelt meine Sinne wie Perfume...wie der Perfume in dem Moment vor dem Kuß, als die Augen schon geschlossen sind, in den letzten Zeitsplittern vor der Berührung der Lippen. So verheißungsvoll und von so flüchtig, daß es selten so zu erfühlen und zu genießen ist.

Ich bin fast angekommen. Auf den letzten Kilometern hängt die Sonne tief und es geht durch Straßenschluchten, wo um die Jahres- und Uhrzeit man im Schatten steht. Die frische Kälte wird plötzlich dunkel und irgendwie klebrig. Nicht mehr frisch, kriecht sie mir unterm Kragen, unter den Ärmeln...ich drehe die Sitzheizung ein Stück höher. Der Hauch des Winters wird schwächer. Wie wird wohl der Kuß des Winters sein?

Als ich aus dem Auto aussteige, ist nicht einmal mehr der Himmel so schön. Aus dem aquamarinblau ist ein diesiges graublau geworden. Wenig später habe ich alle Hände voll zu tun im Dienst. Draußen fällt ein ebenso leichter wie unangenehmer Nieselregen. Die Umarmung des Winters. Zum Glück habe ich keine Zeit für längere Blicke aus dem Fenster.

Viel viel später, als es schon dunkel ist, kehrt gerade ein wenig Ruhe. Über die Stadt hängt ein Nebel, selbst die Umrisse und die Lichter der nahen Innenstadt sind nur schemenhaft auszumachen. Der Regen hat aufgehört. Ich lege eine Pause auf dem Balkon vom Dienstzimmer ein. Atme tief die kalte Luft und spüre es wieder. Den Hauch des Winters.

One response to “Ein Hauch von Winter”

  1. Dani says:

    Wow…..mit Dir auf die Reise zu gehen, deine Worte zu lesen und das Gefühl darin zu spüren ist, wie diese Musik zu hören…

    Verhalten, melancholisch http://www.youtube.com/watch?v=1O-y6fv9FLc
    Oder kraftvoller, vor allem ab 2:26 http://www.youtube.com/watch?v=wKMSnWznnMk

    Wenn wir nach Pescara fahren bringe ICH dir Musik 😉

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