Die Zeitkapsel

Eigentlich wollte ich an diesem Abend nur Fotografieren gehen und wieder ein Paar Aufnahmen zur Blauen Stunde schießen, so blieb der Boxster erst einmal geschlossen. Draußen war es auch ein Bisschen zu frisch und mir war, wie so oft in letzter Zeit, nicht nach offen Fahren zumute. Der lange Winter fühlte sich noch länger an, zog sich geradezu unendlich, als ich losfuhr.

Die Temperaturanzeige leuchtete mich an. Vierzehn Grad, genug, damit die Heckscheibe keinen Schaden nimmt. Vielleicht doch aufmachen? Doch nicht. Ich war mir unentschlossen, bis mir ein Mazda MX-5 entgegen kam. Offen. An anderen Tagen hätte mir das genügt, doch diesmal hatte sich der Winter in jede Ritze eingenistet und wollte mich nicht loslassen.

Mehr aus Trotz als mit Vorfreude steuerte ich eine Tankstelle, die auf dem Weg lag, an. Verdeck entriegeln,  Knopf drücken, aussteigen, Heckscheibe anständig falten, einsteigen, wieder Knopf drücken, bis das Verdeck im Kasten verschwindet. Alle Handgriffe saßen. Wenigstens das hatte ich nicht in dem langen Winter verlernt.

Einsteigen, losfahren.

Wie erwartet, zerwuselte mir der frische Fahrtwind die Haare noch ehe es auf die Autobahn ging. Ich legte Musik ein. Treat, "The Pleasure Principle". Passend. Kraftvoller Heavy Rock. Das erste Lied passte wie die Faust aufs Auge. Let's go out/have a wild night/rev it up/and never see a red light. Ich drückte aufs Gas. Wie gewohnt stürmte der Boxster vorwärts. Der Wind wurde eisiger. Der Winter wollte mich immer noch nicht loslassen. Für ein Moment fühlte es sich an, als würde er ewig dauern. Der Gedanke machte mich traurig.

Ich überholte einige Cabrios, wiederum einige überholten mich. Alle geschlossen. Fast hätte ich die Fahrer beneidet, die es schön gemütlich mit Heizung hatten. Zum Glück nur fast, denn mit den Kilometern passierte etwas, worauf ich nicht zu hoffen gewagt hätte.

Der eisige Griff des Winters lockerte sich. Der Grauschleier, der sich über alles gelegt hatte, bekam Risse. Mein Herz schlug schneller. Es passierte nun doch. Ich hatte es doch nicht verloren und nicht verlernt. Es war wieder da, dieses Gefühl, was ich schon auf meiner allerersten Cabriofahrt hatte. Mir kamen die Tränen.

Während der Boxster die Kilometer fraß, ließ der Winter allmählich von mir los, der Grauschleier flog in Fetzen davon, weggeweht vom Fahrtwind, der mit der Musik aus den Boxen um die Wette pfiff und durch meine Haare streifte. Ja, es war kalt, es war fast zu kalt zum offen fahren. Ich war dennoch froh, aufgemacht zu haben.

Die vierzehn Grad fühlten sich plötzlich wie weit über zwanzig an. Der Boxster verwandelte sich in eine Zeitkapsel. Während draußen ein undefiniertes Wetter herrschte, weder Winter, noch Frühling, war es drinnen Sommer. Ein Gefühl der Wärme, Leichtigkeit und Unbekümmertheit überkam mich.

Ich lächelte. Ich genoß es in vollen Zügen. Es war mir egal, wie kalt es draußen war. Es war mir egal, wie lange dieses undefinierbare Schietwetter andauern würde.Es war mir egal, daß für die nächsten Tage Regen vorhergesagt worden war.

Viel, viel zu schnell kam ich an mein Ziel an. Mit ein wenig Wehmut schloß ich das Verdeck, stieg aus und schloß den Boxster ab, doch ein Gedanke ließ mich wieder lächeln.

In meiner Zeitkapsel würde es immer Sommer sein.

 

 

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