Auf der Suche nach dem Sommer

In anderen Zeiten wäre der Anblick vom Cab auf dem obersten Parkdeck schon mehr als genug gewesen, um aus den kaum 10 Grad draußen gefühlte 30 zu machen. Heute müht er mir höchstens ein Paar Grad mehr ab. Nachtdienste sind die größten Gleichmacher überhaupt, und wenn sie wie heute richtig schwer ausfallen, umso mehr. Ich bin müde und muß mich arg zusammenreißen, um selbst die Übergabe durchzuziehen. Dazu noch der Papierkram, für den im Dienst keine Zeit war.

Der Anblick lockt mich doch ein Bißchen. Schön. Glänzend und funkelnd in die Sonne. Beim Gedanken an die warmen Ledersitze werde ich noch müder als sonst. Selbst Kaffee hilft nicht mehr so richtig. Mit Mühe wende ich den Blick ab und widme mich dem ganzen Papierkram. Alles Routine, und im Moment bin ich so müde, daß es nur noch nervt. Die nette Kollegin, die mir vor ner halben Stunde den Dienstfunk abgenommen hat, schnappt sich wortlos die Hälfte vom Stapel, der vor mir liegt. Eigentlich ist es nicht ihre Aufgabe. Mein Dienst, mein Papierkram. Ich versuche, mir die Scheine zurückzuholen. Mit einem Lächeln schmettert sie den Versuch ab. Bin froh darum. Dabei hat sie selbst 24 Stunden Dienst vor sich. Schade, daß sie uns bald verläßt.

Bis ich fertig bin, verliere ich fast das Zeitgefühl und es ist fast Mittag. Raus hier. Nur raus. Wenn ich nicht so müde wäre, würde ich zum Parkhaus laufen, aber mein Körper fühlt sich an wie eine leere Sockenpuppe. Zustand nach Dienst. Altbekanntes Gefühl, man ist nicht nur psychisch, sondern auch körperlich fertig. Ganz gleich ob man noch ein Grünschnabel ist oder zu den alten Hasen gehört.

Als ich das Cab aufmache, vergesse ich für einen Moment, daß es nicht unbedingt warm ist. Selbst durch die dicke Jacke ist die Wärme der Sitze zu spüren und die Sonne scheint mir so warm ins Gesicht. Ich schließe die Augen und schlafe fast ein. Tu mich schwer mit der Musikwahl für die Heimfahrt. 2Raumwohnung, "36 Grad". Wenn es nur ein Stück wärmer wäre. Das Parkhaus ist fast leer, so stehe ich ganz schnell an der Ausfahrt. Alle Scheiben runter. Schranke geht hoch und es geht nach Hause. 36 Grad und es wird noch heißer?

Das Beat kommt in meine Ohren rein, vermischt mit dem Auspuffgedröhn, das Lenkrad fühlt sich wärmer und wärmer in meinen Händen an, der Fahrtwind wühlt sich durch mein Haar. Strahlender Himmel mit federleichten Wolken spiegeln sich in die Motorhaube. Alles so, wie es sein sollte. Und doch irgendwie nicht. Als hätte ich um meine Seele ne dicke Winterjacke. Eine, die viel dicker als die, die ich gerade an habe. Die einzigen 36 Grad kommen aus den Boxen, in meinem Kopf ist es immer noch Permafrost.

Musik noch lauter. Noch lauter. Gas noch tiefer. Gaspedal fast am Bodenblech. Das Fahrgefühl wird ein klein Bißchen intensiver, der Wind frischer. Alles vermischt sich, geht ineinander über. Die Verwirbelungen, die am Sicherheitsgurt zupfen. Der Wind, der gerade mich wie mit den Händen einer Frau berührt. Wie eine Frau voller Verlangen und Kompromisslosigkeit. Als würde mir eine Stimme ins Ohr flüstern: "Du gehörst nur mir und niemandem sonst". Bin zu müde und ausgelaugt, um dem zu widersprechen, und im Sitz gedrückt zu werden fühlt sich besser an als jedes Wasserbett. Eine Mischung, die jede Erinnerung an die Fahrt einfach auslöscht, in Gedanken wie in die Seele.

Als ich die Autobahn verlasse, ist es so, als würde ich wieder zu mir kommen. Was war gerade noch vor einer halben Sekunde? Oder war es eine Stunde? Eine halbe Stunde? Tage? Wieder ist nur noch die Müdigkeit und die Gleichgültigkeit da. Noch stärker als zuvor. Filmriß irgendwie, als hätte es die Fahrt bis jetzt nie gegeben. Vielleicht auch besser so. Mit Unterbrechungen verschlafe ich den Nachmittag und den besseren Teil des Abends. Bei stöbern im Youtube finde ich einen Song, den ich seit sehr langem nicht gehört habe. Chris Rea, "Looking For The Summer". Wie hypnotisiert schaue ich mir das Video an, nochmal und wieder.

Für ein Moment wünsche ich mir einen Lotus Super Seven, genau wie im Video. Eine kompromisslose Fahrmaschine mit minimalem Schutz vor den Elementen, eng, laut und schnell. Wünsche mir die Sonne, genau wie im Video, den Wind, die präzise Lenkung, den so schön in Griffweite liegenden Schalthebel und die Staubwolke beim Anfahren auf dem Sand. Daß alles wieder so nah ist. Kann für mich selbst nicht aussprechen, was. Einfach alles...

MOMENT! STOP! Bis hierher und nicht weiter! Auf einmal lichtet sich der Filmriß und der Mittag ist für ein Sekundenbruchteil wieder da. Hatte ich das nicht alles schon, gerade mal vor einigen wenigen Stunden? Ja, hatte ich. Aber wieso habe ich es nicht bemerkt? Oder war es einfach nicht das richtige. Nein, das kann nicht sein. Ich schaue mir das Video nochmal an, und erkenne, wie sinnlos die Fragen sind. Immer noch weiß ich nicht ganz, was mir auf der Heimfahrt passiert ist. Weiß nur, wo ich dran bin.

Auf der Suche nach dem Sommer...

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